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Kolumne 008 | Gedanken zum Phänomen des „Nicht-Wissen-Wollens“ – Teil 1

Kolumne 008 | Gedanken zum Phänomen des „Nicht-Wissen-Wollens“ – Teil 1

Das Nicht-Wissen-Wollen –  auch gerne „Beratungsresistenz“ genannt – ist eine heikle Angelegenheit, bei der ich mich auf theoretisch-philosophisches Glatteis wage und am Ende sicher mehr Fragen als Antworten hinterlasse. Nichtsdestotrotz ist es ein äußerst spannendes, kontroverses und zeitgemäßes Thema. Die Türken haben diesbezüglich ein passendes Sprichwort, das besagt:

„Wenn ein Dummer einen Stein in den Brunnen wirft,

bekommen ihn 50 Weise dort nicht mehr hinaus.“

 

Damit ist gemeint, dass es Menschen gibt, bei denen in Bezug auf Hilfestellungen und Ratschlag – wie der Deutsche gerne sagt – „Hopfen und Malz verloren“ sind, also jede Mühe vergebens ist. Der Mensch, der sich nicht ändern will, verharrt in seiner festen Überzeugung und wird mehr Energie darin investieren, dass diese unangetastet bleibt, als Festgefahrenes zu seinen Gunsten zu überdenken. Nun kann dieses Verhalten verschiedenste Ursachen haben und in der Praxis noch viel mehr Variablen. Mich interessiert ein spezielles Schema, das man in der Fachwelt „medialen Eskapismus“ nennt. Es bezeichnet die Flucht aus oder vor der realen Welt zu Gunsten einer Scheinwirklichkeit, begünstigt durch die Interaktion mit Medienplattformen. Im Gegensatz zu den Mechanismen der Verdrängung entscheidet sich der Betroffene offensichtlich bewusst für diesen Prozess, verliert sich dann jedoch in den ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten – bis hin zur Ignoranz. Die vernetzte, virtuelle Welt bietet den Betroffenen hier einen wahrhaft unerschöpflichen Fundus, der darüber hinaus von den Anbietern zielgenau auf das Ausleben der Illusionen zugeschnitten wird. Seit kurzem ist die künstliche Welt auch nicht mehr begrenzt. Die fiktiven Persönlichkeiten und deren Ideologien erobern bereits erfolgreich die reale Welt. Rollenspiele oder Cosplay-Veranstaltungen werden immer beliebter und die künstlichen Leitfiguren erhalten durch die erweiterte Realität [Augmented Reality] und teils autarken, leistungsfähigen Künstlichen Intelligenzen eine erschreckend greifbare Substanz.

Die soziale, gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Entwicklung der letzten Jahre zeigt deutlich, dass der Eskapismus einen erheblichen negativen Einfluss darauf hatte. Im folgenden Text versuche ich einige der Wechselwirkung des Eskapisten und seiner vernetzten Umwelt darzustellen.

Alternativen bevorzugt?

Der Homo sapiens oder auch der vernunftbegabte Mensch: eine Spezies, die diese kostbare Eigenschaft immer seltener zu nutzen scheint. Denn trotz reichlich Informationszugang halten mehr und mehr Menschen ihre individuelle Entfaltung in einem egozentrischen Weltbild gefangen und schaffen sich dabei eine Art Wunsch-Identität an, die begünstigt durch substanzlose, digitale Alter Egos teils narzisstische Züge fördert. Dabei sind Selbsterkenntnis und -entfaltung weiterhin das offensichtliche Ziel. Ein Dilemma, das ein wenig an die größte Herausforderung in einem Märchen erinnert: der Blick in den magischen Spiegel. Die Konfrontation mit dem wahren, variablen Ich und mit diesem umgehen zu lernen, um damit leben zu können. Die Aussicht auf Seelenfrieden durch Selbsterkenntnis scheint allerdings so verstörend und entgegen der bereits vorschnell festgelegten eigenen Überzeugung zu sein, dass diese speziellen Menschen eher Protest erheben, als sich darauf einzulassen. Nicht dem stereotypen Gesellschafts- oder Werbeideal zu entsprechen, ist ein stilles Tabu. Da Trends dieses stetig neu indoktrinieren und auf nahezu jeder Informationsplattform publizieren, wird das Streben nach einer fremdauferlegten Perfektion zur ewigen Odyssee und lenkt vom eigentlichen Dasein ab. Der Eskapismus geht von einem Nutzen und Belohnungsansatz aus und behandelt die Theorie der selektiven Zuwendung nach dem Soziologen Elihu Katz. „Ziel des kommunikationstheoretischen Ansatzes war es, die Motive für die Mediennutzung der Nutzer herauszufinden. Dabei wurde erstmals die Sicht auf den bewusst handelnden Empfänger gelegt. „Wir fragen nicht mehr ‚Was machen die Medien mit den Menschen?‘, sondern ‚Was machen die Menschen mit den Medien?“1 Das Modell hat seinen Ursprung in den frühen 60er Jahren, einer Zeit, in der es noch keine bidirektionalen Kommunikationswege oder Plattformen zur Direktkommunikation des Nutzers wie z. B. das Internet gab. In den letzten 60 Jahren wurde dieses Modell stetig angepasst. Die Basis ist bei den meisten Ergänzungen weiterhin der Nutzen und Belohnungsansatz, den ich aufgrund meiner langjährigen praktischen Beobachtungen im professionellen Umgang als Informationslogistiker mit aktiven und interaktiven Medien teilweise in Frage stelle.

Mit der vernetzten Gesellschaft und den virtuellen Szenarien frisst sich die, salopp ausgedrückt, selbstverliebte Ignoranz wie ein Steppenbrand durch das Internet und seine sozialen Netzwerke. Sie ist der Virus, vor dem keine Software oder Firewall Schutz bieten wird. Dabei beeinflusst sie das bereits nicht unkomplizierte Miteinander eklatant destruktiv; sie bietet dem eigenwilligen Individuum einen irrealen Fluchtweg, Angriffsfläche für die kommerzielle Ausbeutung und Manipulation sowie gleichzeitig einen Nährboden für extreme Gruppierungen oder Glaubensrichtungen.

Es wirkt wie die Sehnsucht nach einer Identitätsabsolution durch einen hochglorifizierten, jedoch in der Realität nicht lebensfähigen Heilsbringer. Zurück zu eben jenen einfältig angebeteten Idolen frühzeitlicher Zivilisationen, vor denen bereits das Alte Testament vergebens warnte.

„Mensch: ein Lebewesen, so angetan von Illusionen über sich,

dass es völlig vergisst, was es eigentlich sein sollte.“

[Ambrose Bierce | 1842 – 1914]

Letztlich keine wirklich neuen Erkenntnisse, was den zweifelnden und dadurch manipulierbaren Menschen und seinen ihn oft überfordernden Alltag betrifft. Diese sich ähnelnden Muster eines widersprüchlichen Verhaltens sind wohl deshalb das primär behandelte Thema in Aufzeichnungen und ziehen sich durch die Menschheitsgeschichte wie ein roter Faden: angefangen bei der Höhlenmalerei, über Kunst, religiöse Codizes, über die griechische Tragödie, Sagen, mündlich überlieferte und über die Zeiten ausgeschmückte Lagerfeuer- und Gute Nacht-Geschichten, Gesetze, bis hin zur gedruckten Literatur, dem Schauspiel auf Bühne und im Fernsehen sowie aktuell den vielen, nun nahezu jedem öffentlich zugänglich gemachten Selbstdarstellungen im Internet. Das Einzelwesen in der Masse stellt Kernfragen über dessen Wesentlichkeit:  Wer bin ich? Wo geht es hin? Was mache ich und warum tue ich dies? Habe ich eine Aufgabe? Ist mein Schicksal von Bedeutung? Bin ich besonders?

Im Grunde ein tief verankerter Appell, dass sich die anderen für einen selbst und seine Eigenarten nicht nur interessieren, sondern diese möglichst erkennen und respektieren. Ein Urinstinkt zur Gruppe gehören zu wollen und neben Schutz, Unterstützung und Verständigung auch Akzeptanz zu erfahren. Das kleine Licht des Daseins, das wir wie eine Fackel in der Dunkelheit über das Haupt halten, um zu signalisieren:  Ich bin hier! Es gibt mich! Nehmt mich wahr! Ich bin wichtig!

Womit ich wieder beim eigentlichen Thema bin. Viele Fragende, von denen sich ein nicht unerheblicher Teil bereits selbst die Antwort gibt, als würden diese ihr Verständnis einem anderen verkaufen wollen, als würden Sie keine Lösung, sondern lediglich eine Bestätigung ihres unverrückbaren Standpunktes einfordern, überwiegen die wenigen, welche fragen, um letztlich alternatives Wissen zu erfahren, aus dem sie selbst eine für sich vorteilhafte Entscheidung entwickeln können.

„Das ist der ganze Jammer:

Die Dummen sind so sicher und die Gescheiten so voller Zweifel.“

[3. Earl Bertrand Arthur William Russell | 1872 – 1970]

Die von Präsident Trump gesellschaftsfähig gemachten „Fake News“ zeigen deutlich, wie besorgniserregend das Phänomen des Nicht-Wissen-Wollens zugunsten der eigenen Überzeugungen greifen kann. Ein Alltagsleben mit automatisierter und facettenloser Unterhaltung, Bildung, Politik und Wirtschaft nach Quoten begünstigt den Rückschritt in eine unsoziale, nicht aufgeklärte Gesellschaft. Würde man die intraspezifische Beziehung von Menschen aufgrund der unterschiedlichen Anforderungen der Individuen mit einer Symbiose vergleichen, entsteht momentan Parasitismus. Eventuell liegt das daran, dass der Mensch im Allgemeinen nicht mehr als solcher gesehen, sondern ungenügend kategorisiert und uniformiert wird. Das System Menschheit unterwirft sich unpersönlichen Zahlen und nimmt sich dadurch selbst aus der Gleichung. Auf Dauer gesehen wird man so keine menschbezogenen Fortschritte machen können, sondern Opfer der emotionslosen und in diesem Fall eher soziopathischen Logik.

„Alle weisen Männer waren auf einer Seite, und

alle Narren waren auf der anderen …

Und, verdammt, Sir, alle Narren hatten recht!“

[Arthur Wellesley, 1. Duke of Wellington| 1769 – 1852]

Die Jetzt-Zeit unterscheidet sich besonders von der Vergangenheit durch den riesigen, sofort zugänglichen Pool an geballtem Wissen.  Dieses „Heute“, ist jedoch eine gar seltsame Epoche, in der jeder mit jedem ohne Sprachbarrieren sowie kulturfrei durch adaptives Einheitslayout kommunizieren kann. Leider macht es den Anschein, dass viele nur senden und die wenigsten bereit sind, zu empfangen. Nur noch selten engagiert man sich für die Themen anderer, es sei denn, es verspricht einen Nutzen zur Profilierung der eigenen Präsenz. Darüber hinaus verschließen sich jene aus Befindlichkeit einem konstruktiven Dialog, die von diesem am meisten profitieren würden. Das schnelle Reagieren auf oft nicht kommentierte und in Zitaten abstrahierte Inhalte durch einen mühelosen Klick  zur Stärkung der eigenen Meinung entbehrt und vermeidet die Auseinandersetzung mit der Situation und dem grundsätzlichen Thema. Es wird nicht mehr gelernt, sondern vielmehr im Affekt gehandelt. Die eben noch in z. B. einem Chat hineingeworfenen, gescheiten „Fremd“- Aussagen zur Belehrung der anderen finden keine Wirkung und damit Nutzen für den sich trotzig Verteidigenden.

Eine Art Argument-Stellungskrieg von Monologen, die in eine Dialog-Struktur eingebunden werden, mit dem fatalen Effekt eines unbewusst die Sinneswahrnehmung überlastenden „Stahlgewitters“ [Bezeichnung aus dem I. Weltkrieg für die Intervall-Trommelbefeuerung des Gegners als psychologische Kriegsführung]. Es wird dem Gegenüber im Stakkato abverlangt, was man sich selbst nicht zugestehen will. Der Psychologe C. G. Jung kommentierte diese Unart menschlicher Kommunikation mit den Worten: „Wirf Deinen Schatten nicht auf andere.“ Er meinte damit jenes eigentümliche Verhalten, wenn wir im Streit das, was uns am meisten an uns selbst stört, auf eine andere Person projizieren.

„Wieso, weshalb, warum, warum … wer nicht fragt, bleibt dumm!“

[Sesamstraße]

Ein wenig wie im Kindergarten oder der Grundschule, wo, wer nicht schnell und gescheit antwortet, sich zwar mutig und völlig korrekt outet, jedoch meist zum Gespött eben jener wird, die es ebenfalls nicht besser wissen. Ein allzu vertrautes Schamgefühl mit verheerenden Nebenwirkungen des Heranwachsenden.  Desto intensiver greift dann der kurze Moment zwischen Schule und Studium oder Ausbildung, der Zeit der Abnablung als auch der Rebellion gegen das Elternhaus, Regeln und Dogmen sowie dem Entdecken eigener Interessen und Vorlieben. Eine Lebensphase, die aufgrund des jugendlichen Sturm und Drangs der Pubertät und Entscheidungsfindung für das weitere Leben prägend ist. Oft wird dieser Lebensabschnitt am intensivstem mit dem verglichen, was man allgemein „Freiheit“ nennt. Eventuell ist dies einer der Faktoren, die das Streben nach virtuellem Ruhm generationsübergreifend so verheerend in einem substanz- und auf Wunsch konfliktfreiem Raum wie das Internet wirken lässt.

„Kinder, seht, da müßt ihr wachen, Euch vom Irrtum zu befrei’n.

Glaubet nie dem Schein der Sachen, Sucht euch ja gewiß zu machen,

Eh‘ ihr glaubt, geliebt zu sein.“

[Johann Wolfgang von Goethe| 1749 – 1832]

Ein auffallend großer Anteil an Menschen im Internet (in Deutschland betrifft dies 58 Millionen Internet-Nutzer, das entspricht 79% der Bevölkerung) verbringen durchschnittlich 149 Minuten im Netz.2 Geht man davon aus, dass dieses Phänomen seit 1990 bei einem zu dieser Zeit 20-jährigen Menschen greift, der 70 Jahre alt werden würde, entspräche dies im Endeffekt 5 Jahren virtueller Lebenszeit. Der Anteil eifrig um Informationsverbreitung bemühter Nutzer erinnert ein wenig an die Schar schillernder Schmetterlinge, wie die illustre Party-Gesellschaft in Scott Fitzgeralds „Der große Gatsby“ oder die destruktiven Schlamuffen aus Michael Endes „Die unendliche Geschichte“.

Es gilt: Form vor Inhalt, Befindlichkeit vor Toleranz, Eindeutigkeit vor Vielfalt. Alles muss sofort erfahren und verstanden sein. Plakativ gekürzt, aus dem Kontext gerissen, greifbar und selbstverständlich, zweckgemäß entfremdet und meist banal. Ein Link oder ein Bild reichen zur Verifizierung. Hauptsache Erster! Eine Szenerie, die an den Revolverhelden aus einem Italo-Western erinnert. Teilen und sich als rasanter und schlauer brüsten, ohne den gesamten Inhalt hinterfragt zu haben. Peng! Schneller als der eigene Schatten. Drei – Zwei – Eins – Meins! Egopflege auf Knopfdruck mit Umtauschrecht. Provokation mit Löschfunktion. Irrtum mit einem „Undo“ kaschierbar. Im Zweifelsfall ein Emoji dranhängen. Das reicht!  Anstand ist nicht nötig, denn man agiert meist anonym, ähnlich wie man sich im Auto unbeobachtet fühlt und daher ungehemmt, zum Ärger anderer Verkehrsteilnehmer, an der Ampel in der Nase popelt. Dies betrifft sowohl den Privatnutzer als auch die etablierten Medien, die ihre Berichte unter Zeitdruck zur Aktualität ebenso wenig ausreichend kontrollieren und, was schlimmer ist, unkommentiert nachträglich, fast heimlich korrigieren. Ein Informationschaos, das schwere Folgen hat. Die Muße und das notwendige Reflektieren zum Verständnis des Erfahrenen und nicht Erlebten stirbt mit der Zwangshandlung ad hoc reagieren zu wollen.

„Jeder von uns ist sein eigener Teufel, und wir machen uns diese Welt zur Hölle.“

[Oscar Wilde |1854 – 1900]

Wer an dieser Aussage zweifelt, muss sich nur umschauen. Menschen, die unter Stress geraten und Schweißausbrüche haben, wenn sie nicht nach dem ersten Klingeln des Mobiltelefons darauf reagieren können, die erst den Bildschirm verlassen, nachdem ein Beitrag auf Facebook „geliked“ wurde oder die in einem, ohnehin schon seltenen, persönlichen Dialog ständig auf die Smartwatch starren, als würden sie keine Zeit haben und damit ihr Gegenüber irritieren, nur weil ihre schlaue Uhr sie mit sicher auch später relevanten Informationen aufdringlich versorgt. Ein stark unterschätztes Suchtverhalten. „,Neurobiologische Studien zeigen, dass nichts das Motivationssystem so sehr aktiviert, wie von anderen gesehen und sozial anerkannt zu werden‘, sagt Joachim Bauer, Medizinprofessor aus Freiburg, der seit Jahren den Wunsch nach Anerkennung erforscht.“3

Kinder, die auf Tagesreisen in einem Museum sich die Kunst auf dem Handy anstatt in der Galerie anschauen und natürlich die stetig wachsende Anzahl an Unfallopfern durch fehlende Aufmerksamkeit im Alltag. Teil des aktuellen Ereignisses der Community zu sein, die Sehnsucht zu einer Gruppe zu gehören, gesehen, präziser bemerkt zu werden und sei es nur durch den sinnlosen Kommentar auf eine an die Allgemeinheit gestellte Frage, dass man die Antwort nicht wisse. Würden all diese unnötigen Informationen ein kleines Licht sein, wäre die Menschheit an deren Masse sicherlich verglüht. Der unnötige Energieverbrauch geht darüber hinaus zu Lasten unserer Umwelt. Das kaum auffällige, dafür umso unnötigere „Ich weiß es nicht“, welches durch Schweigen bereits deutlich wäre, fällt dem lediglich auf sich aufmerksam machenden Schreiber nicht auf, doch Millionen äquivalenter davon könnten ein kleines Land mit Strom versorgen. Digitales bleibt für den Nutzer in mehr als nur einer Hinsicht abstrakt.  Eine für den gesunden Menschenverstand untragbare Situation. Also stellt sich die Frage: Ist dieser allgemeine Verstand noch gesund?

In den späten 60er Jahren des letzten Jahrhunderts hat diese „kulturelle Degeneration“ ausgerechnet ein Groschenroman aufgegriffen. In der Science-Fiction-Serie „Perry Rhodan“, trifft die Menschheit auf eine weiterentwickelte Spezies, die sich jedoch nur noch für ihre virtuellen Szenarien interessiert und damit die Hochkultur an den Rand des Zerfalls treibt. Eine zynische und nun greifende Dystopie.

„Die meisten Menschen sind Gefangene im Käfig ihrer eigenen Überzeugungen“

[Knaur Verlag| 1993]

Das innovationsgehemmte Umfeld trägt seinen Teil zum Durcheinander bei. Der Kapitalismus, den ich hier weder wirtschaftlich noch gesellschaftlich weiter hinterfragen möchte, hat sich selbst mit der vernetzten Gesellschaft und den On-Demand-Bestellungen sowie den statistischen, seelenlosen Auswertungen für einen besseren Absatzmarkt in eine Sackgasse geführt. Zum einen will man den Konsumenten beeinflussen, zum anderen zielgenau dessen Interessen beliefern. Dummerweise verschwinden diese Individualwünsche durch das Vermeiden einer „chaotischen Vielfalt“. Die Bereitschaft für Wagnis, Innovation und Risiko von ehemals unternehmergeführten Industriezweigen, die sich der Verantwortung ihres Schaffens noch bewusst waren, ist einer Riege ideenloser, dafür umso karrierebewusster Sklaven von Umsatzanforderungen gewichen: dem Mittleren Management.

Risiko ist ein „No Go“, so wird das Bekannte stetig und engagiert verbessert, bis es perfekt und damit nutzlos geworden ist. Adaption und Lizenzen bereits markterprobter modularer Komponenten werden favorisiert, da das Neue aufgrund nötiger Investition und damit Gewinnschmälerung nur zaghaft angegangen wird. Prozentzahlen und Statistiken regieren die Wirtschaft und diese fühlt sich damit sicher. Der menschliche Faktor wird auf das Möglichste begrenzt oder formbar gemacht.  Man versucht Schwächen oder Fehler zu vermeiden und übersieht, dass diese Faktoren der Ursprung für Neuerungen sind. Der für seine Automation bekannte Industrielle Henry Ford meinte treffend dazu. „Unsere Fehlschläge sind oft erfolgreicher als unsere Erfolge.“

Wie gut, dass sich einige – eher seltene – Unternehmer der Angst vor dem Risiko verweigerten und sich durch die allgemeinen Vorgaben nicht irritieren ließen. Allerdings zum irrigen Preis, dann wie der bereits oben im Text erwähnte fragwürdige Heilsbringer verehrt zu werden und mit ihrer Vermarktung eine Ersatzreligion geschaffen zu haben, wie z. B. der verstorbene Steve Jobs mit Apple, dessen Produkte noch vor öffentlicher Testphase bereits ausverkauft sind. Auch hier wieder, um offensichtlich Erster und Privilegierter sein zu wollen. Man will zu einer Gruppe und damit zweifelsfreier, da definierter Identität angehören. Maßstab und Wertung helfen Zweiflern, sich zu behaupten, selbst wenn diese Normungen keinen relevanten Bezug zu einer Situation haben. Menschen in Mengen sind extrem kompliziert und das Individuum unverschuldet physisch und sozial eingeschränkt durch die jeweils notwendigen Anforderungen mit der Umwelt zu interagieren und umzugehen. Doch dazu später mehr.

„Das Geheimnis des Agitators ist, sich so dumm zu machen,

wie seine Zuhörer sind, damit sie glauben, sie seien so gescheit wie er.“

[Karl Kraus | 1874 – 1936]

Sehr deutlich wird diese Verwirrung im Buchmarkt. Einst jener Quelle, die differenziert Wissen und Unterhaltung anbot, die zum Nachdenken motivierte und andere Sichtweisen ermöglichte. Meist profitierten revolutionäre Gedanken durch Kriege, da die Menschen nach dem erfahrenem Leid für ein Umdenken offener waren. Ich vermute jedoch, dass es eher daran lag, dass die konservativen Fanatiker auf den Schlachtfeldern gefallen waren und somit nicht mehr als Schwellenhüter dem gewagten Gedankengut Widerstand boten. Bedenkt man, dass 30 Jahre Krieg geführt wurden, um das Monopol der Kirche auf die Bibel zu brechen, die den Inhalt der Heiligen Schrift für ihre Gläubigen bewusst unverständlich hielt, wurde das Recht auf Wissen und Eigenständigkeit mühsam erkämpft. Ohne die kriegerischen Auseinandersetzungen keine Aufklärung. Mit jedem Konflikt einen Schritt näher zum Verständnis des Individuums, seiner Bedürfnisse und den damit verbundenen, notwendigen Rechten, bis zu einem letzten Höhepunkt in den Spätsechzigern – einer Zeit, in der die Medien und die Bevölkerung gegen das Establishment zu Recht aufbegehrten.

Ich hoffe sehr, dass der New Yorker Philosophieprofessor Arthur Danto im Unrecht war, als er nach einem Besuch einer Ausstellung Andy Warhols in der Stable Gallery feststellte, dass dies das Ende der Kunst sei. Doch, wie es aktuell aussieht, war es der Anfang von einem vielversprechenden Ende. Die 70er und 80er Jahre des 20. Jahrhunderts begruben effektiv konstruktive Denkweisen und das Engagement dafür unter einer Flut von Idealbildern. Divide et impera, teile und herrsche. Und wo könnte besser und wirkungsvoller Unfrieden geschaffen werden, als im Individuum selbst?

Kein Wunder also, dass in den darauffolgenden Jahren Bücher von Schreibtischtätern, Lehrbücher nach Liste zunahmen: Wie werde ich ich selbst? Wie wird mein Ich besser? Wie finde ich mein Glück, die Glücksformel, etc… Das demokratische Prinzip war bereits als selbstverständlich angenommen, bevor es verstanden, erprobt und gelebt wurde und in dieser Übergangszeit bot die Wirtschaft Hilfestellungen, erneut in ein gesellschaftliches Schema zu passen.

Ganz vorne an: Autoren wie Anne West, aber auch Abdrucke von Khalil Gibran oder Aphorismen von Paulo Coelho, die dem Leser das Gefühl einer trügerischen Sicherheit gaben, entweder eine realitätsferne Liste abhaken zu können, nie fertig zu sein, beziehungsweise sich mit Aussagen zu identifizieren, die bereits lange bekannte Lebensweisheiten sind, indem sie diese schlicht blumiger oder erhabener auszudrücken verstanden. Im Falle Anne Wests geht die beratende Autorin von gar keinem Wissen ihrer Leserschaft aus und trichtert ungehemmt und verantwortungslos ihre theoretischen Moralvorstellungen in Form von manifestartigen Regeln den nach Rat oder Hilfestellungen suchenden Lesern ein. Die Sekte summt dann ein für sie augenscheinliches Mantra neuer Erkenntnisse und der Guru verdient immens daran.

Wenn die Politik in der Tat dazu dient, wie der von mir wenig geschätzte Machiavelli behauptet, „der Macht den nützlichsten Gebrauch zu machen“, wirkt die Vermarktung von Büchern, deren Inhalte darauf ausgelegt sind, nie gescheiter als ihre Leser zu sein, auf mich wie Politik in Reinform. Wissen zu verkaufen, welches kein Wissen vermittelt, ist Idiotie und dieser Irrsinn holt die Verlage ein und rächt sich. Denn wem das Denken abgesprochen wurde und stattdessen eine kreative Einöde wie das Nichts aus Michael Endes unendlicher Geschichte hinterlässt, darf sich nicht wundern, dass keiner mehr weiß, was er eigentlich will und gut für ihn sein könnte. So fließen Krokodilstränen über einen schwindenden Absatzmarkt und so werden Internet, Online-Markt-Mitbegleiter und Blog-Autoren denunziert, um von der selbstgeschaffenen Unfähigkeit abzulenken.  Lautstark, mimosig und medienpräsent jammert der Buchmarkt darüber, dass sich nur noch Bücher verkaufen, deren tragische Protagonisten definitiv dümmer als die Leserschaft oder, falls erhabener, dann mit übermenschlichen Fähigkeiten ausgestattet sein müssen. Der ahnungslose Held wird nicht mehr auf eine abenteuerliche Reise gegen seine Überzeugungen und das vermeintliche Böse ausgesandt, sondern scheitert an einer Maschinerie perfekt organisierten Verbrechens, das sich ordinär tiefenpsychologisch offenbart und dafür feiern lässt.

„Heutzutage werden Bücher geschrieben, in der das Böse gefeiert,

anstatt bekämpft wird.“

[Stephen King | 1947 – ]

 

 

Fortsetzung folgt …

 

[Text: der stadtläufer]
[Korrektorat: Kerstin Krüger]
[Photo: StockSnap 27721]

Quellen:

*1Elihu Katz, David Foulkes: On the use of the mass media as ,escape‘ – Clarification of a concept. (S. 377–388) In: Public Opinion Quarterly, 26/1962
*2 statista 2017 / ARD/ZDF Online Studie
*3 Zeit Online

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die stadtläufer kolumne
Mal eben an- und einzuhalten, um ein Foto zu schießen, erscheint im Vergleich leichter, als sich Notizen zu machen und diese in der Form wiederzugeben, dass sie der Stimmung, Situation, Dramatik oder Komik gerecht werden.

Bei den Kolumnen versuche ich nicht allzu viel nachzudenken. Habe feststellen müssen, dass es besser ist, diese möglichst unangetastet zu lassen.

Die beschriebenen Alltags-Situationen mögen nicht alle exakt so geschehen sein. Manche sind Kombinationen verschiedener Ereignisse, aber das Gefühl spiegeln diese gut wider.

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 Entwickler
 Klugscheisser
 Idealist

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